Dieser Teil des Kirchengebäudes strahlt eine Gleichmäßigkeit und Einheit aus; dagegen wirkt die Außenhaut des Langhauses und des Kirchturms unruhig und zusammengestückelt.
Der Turm steht überdies nicht auf der Mittelachse des Kirchenschiffs und des Chores.
Veränderungen
Die Rückkehr Herzog Ulrichs aus dem Exil in Mömpelgard und die erneute Ausübung der Macht in Württemberg (1534) brachten zwei für die Kirchheimer Martinskirche prägende Entscheidungen mit sich. Zum einen wurde in Württemberg die Reformation eingeführt. Seit dieser Zeit ist die Martinskirche ein evangelisches Gotteshaus. Und die zweite Entscheidung, das Herzogtum mit Festungen gegen feindliche Zugriffe zu schützen, löste in Kirchheim eine lebhafte Bautätigkeit aus.
Im Zuge des Ausbaus zur Landesfeste wurde der Kirchturm der Martinskirche 1540 bis auf Stadtmauerhöhe abgetragen. Der Turmstumpf war nicht einmal mehr 9 m hoch. Das war den Bürgern zu wenig, sie wünschten einen Wiederaufbau.1568 kam die Genehmigung, den Turm als Hochwacht- und Bläserturm auf 20 m zu erhöhen.
Dann brach am 3. August 1690 der große Stadtbrand aus. Auch die Martinskirche blieb nicht verschont. Das Langhaus und der Turm brannten aus. Es erschien wie ein Wunder, dass das Chorgewölbe den Flammen widerstand. Hier begannen auch die
Reparaturen am Kirchengebäude. Schon am 24. November 1691 fand der erste Gottesdienst statt. Der Turm wurde zur Genugtuung der Kirchheimer Christen um 1692 auf die heutige Höhe von 27 m erhöht. Die Jahreszahlen am Kirchturm der Martinskirche zeigen die verschiedenen Aufbaustufen.
Doch der aufmerksame Betrachter findet immer wieder neue Hinweise auf Veränderungen am Gotteshaus. So kann eine Kirchenumrundung die Lust auf weitere Nachforschungen auslösen. An der Südostecke des Kirchturms sind Strukturen einer Gewölbekonstruktion zu erkennen. Die Reststumpen weisen auf einen Abbruch hin. Ein zweigeschossiger Kapellenanbau aus dem Mittelalter stand hier. Dieser neugotisch aufgeputzte Turmanbau beherbergte seit dem 19. Jh. das Archiv. Einigen Kirchheimer Bürgern wird dieser Archivanbau noch in Erinnerung sein. Doch seine eigentliche Bedeutung zeigte sich erst beim Abbruch 1957. Bei diesem Gebäude handelte es sich um eine zweigeschossige mittelalterliche Beinhauskapelle.
In der Zeit vor der Reformation besaßen die Pfarrkirchen Beinhäuser. Diese „Häuser der Knochen“ waren notwendig, denn aus Gründen der Pietät wurden die bei einer Bestattung aufgefundenen Gebeine der „alten“ Toten gesammelt und an diesen Plätzen aufbewahrt.
Nachdem der Kirchhof an der Martinskirche nicht mehr belegt werden konnte, da im Zuge von Kirchheims Ausbau zur Landesfestung das Kornhaus errichtet wurde, verlor die Beinhauskapelle ihre Bedeutung. Die Verstorbenen erhielten nun ihre Ruhestätte im Alten Friedhof.
Bildunterschrift:
So sah die Martinskirche mit der Beinhauskapelle aus.
Am Fuß des Kirchturms ist das 1938 entfernte Denkmal an Konrad Widerholt und seine Frau Anna zu sehen, das 1872 errichtet wurde.
Text und Bilder: Bernd Neugebauer