Die Martinskirche - Betrachtung und Erkundung von außen

 

 

Die Martinskirche – Betrachtung und Erkundung von außen

Eine Erkundung der Martinskirche in Kirchheim unter Teck mit allen Sinnen von außen und von innen kann dem Gebäude, meiner Meinung nach, gerechter werden als eine reine Aneinanderreihung historisch belegter Fakten.

So ist es nicht Ziel, alle kunstgeschichtlichen Aspekte zu erläutern oder die theologischen Aussagen zu Symbolen und Bildern möglichst vollständig zu erfassen. Ziel dieser Art von Begegnung mit der Kirche und dem Kirchenraum ist vielmehr die Wirkung des Gesamtgebäudes.

Wird die Martinskirche langsam, aufmerksam betrachtend, umrundet, verheißen die unterschiedlichen Bauteile eine lange Geschichte.

Bevor Sie nun die Wirkung der Kirche wieder auf das Geschichtliche reduzieren, versuchen Sie doch einmal, der Martinskirche auf folgende Weise zu begegnen.

Gehen Sie langsam um das Kirchengebäude herum und betrachten Sie den Turm und das Kirchenschiff vom Gemäuer und dem Größenverhältnis zueinander her.
Was fällt Ihnen auf? Betrachten Sie die Lage der Kirche im Verhältnis zu ihrer Umgebung. Welche Bedeutung kam dieser Kirche in der Vergangenheit zu und welche Bedeutung mag sie heute noch für die Menschen der Stadt Kirchheim haben? Aus welcher Himmelsrichtung gefällt Ihnen der Bau am besten?
(kleine Hilfe: Der Turm steht im Westen.) Nach welcher Himmelsrichtung ist der Chor ausgerichtet? Warum? Finden Sie an der Außenhaut der Kirche Brüche im Mauerwerk, zeigt das Mauerwerk Unterschiede?

 

 

 

 

 

 

Bildunterschrift:

Ein zugemauertes Rundbogenfenster oder eine Tür, spätgotisch ?

 

Sicher werden Sie einige Ungereimtheiten feststellen. So ist z.B. an der rechten oberen Ecke des Eingangs zum Chor der Umriss eines Rundbogenfensters zu erkennen. Die Nordwand des Kirchenschiffes hat ebenfalls ähnliche zugemauerte Öffnungen.

Es werden die Türen zu den Emporen gewesen sein.

 

 

Nach der Reformation wurde in der bestehenden Heiligkreuzkapelle an der Nordseite des Chors die Sakristei eingerichtet, ein neuer Zugang musste in die Außenwand gebrochen werden.

Die Proportionen des Kirchturms sind ungewöhnlich, und in der Südostnische zwischen Turm und Langhaus ist der Ansatz einer Steinstrebe zu erkennen.

Baugeschichte

Heute entstehen Gebäude, Plätze, neue Straßen in wenigen Jahren und bringen das Stilempfinden ihrer Entstehungszeit zum Ausdruck.

Ganz anders war das in den Epochen vor uns, ganz besonders, wenn es sich um prestigeträchtige Bauten wie Kirchen, Schlösser oder Burgen handelte. Hier erstreckte sich der Bauprozess oft über tief greifende wirtschaftliche und politische Veränderungen. In dieser langen Bauphase wandelten sich die Geschmacks-vorstellungen. Umbauten und Veränderungen standen deshalb häufig an. Doch bemühte man sich, möglichst viel der vorhandenen Bausubstanz zu erhalten.

Welche Informationen gibt die Baugeschichte preis?

Die Martinskirche gehört zu den ältesten erhaltenen Gebäuden Kirchheims. Es wird vermutet, dass nach einer abgebrannten Holzkirche aus dem 7. Jh. hier im 8. Jh. eine Steinkirche errichtet wurde. Im 10. Jh. wird eine aus Stein erstellte Kirche, eine Basilika, genannt, die wahrscheinlich unter der Herrschaft der Zähringer erweitert oder größer neu gebaut wurde. Sie ist St. Martin von Tours geweiht.
Wohl zu Beginn des 14. Jh. erfolgte der Bau des Westturms an der Nordwestecke der seit dem 13. Jh. ummauerten Stadt.

Das dreischiffige Langhaus wurde um 1420 vergrößert. Die Nordwand der Vorgängerkirche blieb erhalten, denn in dieser Richtung war eine Erweiterung nicht möglich.

 

 

 

 

 

Bildunterschrift:

Zugemauerte Öffnung in der Nordwand der Martinskirche: ein Bauteil der romanischen Vorgängerkirche ?

Diese Kirchenseite grenzte direkt an die Stadtmauer. Nur eine Verlegung der Südseite um 2 m konnte durchgeführt werden. Solche großen Veränderungen am Kirchenbau stockten immer wieder. Geldsorgen werden der Hauptgrund gewesen sein. Der Chor wurde deutlich größer als das quadratische romanische Vorgängermodell gebaut. Hier verwendete man auch keine bestehenden Mauern. Der spätgotische Chor ist ein vollständiger Neubau, der 1453 vollendet wurde.

 

 

Dieser Teil des Kirchengebäudes strahlt eine Gleichmäßigkeit und Einheit aus; dagegen wirkt die Außenhaut des Langhauses und des Kirchturms unruhig und zusammengestückelt.

Der Turm steht überdies nicht auf der Mittelachse des Kirchenschiffs und des Chores.

Veränderungen

Die Rückkehr Herzog Ulrichs aus dem Exil in Mömpelgard und die erneute Ausübung der Macht in Württemberg (1534) brachten zwei für die Kirchheimer Martinskirche prägende Entscheidungen mit sich. Zum einen wurde in Württemberg die Reformation eingeführt. Seit dieser Zeit ist die Martinskirche ein evangelisches Gotteshaus. Und die zweite Entscheidung, das Herzogtum mit Festungen gegen feindliche Zugriffe zu schützen, löste in Kirchheim eine lebhafte Bautätigkeit aus.

Im Zuge des Ausbaus zur Landesfeste wurde der Kirchturm der Martinskirche 1540 bis auf Stadtmauerhöhe abgetragen. Der Turmstumpf war nicht einmal mehr 9 m hoch. Das war den Bürgern zu wenig, sie wünschten einen Wiederaufbau.1568 kam die Genehmigung, den Turm als Hochwacht- und Bläserturm auf 20 m zu erhöhen.

Dann brach am 3. August 1690 der große Stadtbrand aus. Auch die Martinskirche blieb nicht verschont. Das Langhaus und der Turm brannten aus. Es erschien wie ein Wunder, dass das Chorgewölbe den Flammen widerstand. Hier begannen auch die

Reparaturen am Kirchengebäude. Schon am 24. November 1691 fand der erste Gottesdienst statt. Der Turm wurde zur Genugtuung der Kirchheimer Christen um 1692 auf die heutige Höhe von 27 m erhöht. Die Jahreszahlen am Kirchturm der Martinskirche zeigen die verschiedenen Aufbaustufen.

Doch der aufmerksame Betrachter findet immer wieder neue Hinweise auf Veränderungen am Gotteshaus. So kann eine Kirchenumrundung die Lust auf weitere Nachforschungen auslösen. An der Südostecke des Kirchturms sind Strukturen einer Gewölbekonstruktion zu erkennen. Die Reststumpen weisen auf einen Abbruch hin. Ein zweigeschossiger Kapellenanbau aus dem Mittelalter stand hier. Dieser neugotisch aufgeputzte Turmanbau beherbergte seit dem 19. Jh. das Archiv. Einigen Kirchheimer Bürgern wird dieser Archivanbau noch in Erinnerung sein. Doch seine eigentliche Bedeutung zeigte sich erst beim Abbruch 1957. Bei diesem Gebäude handelte es sich um eine zweigeschossige mittelalterliche Beinhauskapelle.

In der Zeit vor der Reformation besaßen die Pfarrkirchen Beinhäuser. Diese „Häuser der Knochen“ waren notwendig, denn aus Gründen der Pietät wurden die bei einer Bestattung aufgefundenen Gebeine der „alten“ Toten gesammelt und an diesen Plätzen aufbewahrt.

Nachdem der Kirchhof an der Martinskirche nicht mehr belegt werden konnte, da im Zuge von Kirchheims Ausbau zur Landesfestung das Kornhaus errichtet wurde, verlor die Beinhauskapelle ihre Bedeutung. Die Verstorbenen erhielten nun ihre Ruhestätte im Alten Friedhof.

 

 

 

Bildunterschrift:

So sah die Martinskirche mit der Beinhauskapelle aus.

Am Fuß des Kirchturms ist das 1938 entfernte Denkmal an Konrad Widerholt und seine Frau Anna zu sehen, das 1872 errichtet wurde.

Text und Bilder: Bernd Neugebauer

 

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