Der Charme eines Städtles

 

Die noch lebenswerte Alternative zur glasglatten Globalschablone moderner Stadtarchitektur ist die Kleinstadt, das Städtle, seit Elvis Presley weltweit auch als Städtele bekannt. Eine Globalisierung, gegen die "Schtuagertle" null Chancen hätte, singe, wer da will. Das Städtle hat oder hatte eine Stadtmauer, hat oder hatte ein Schloss, und der Hügel mit der schönsten Aussicht heißt Galgenberg, denn auch Missetätern wollte man in früheren Tagen den fantastischen Fernblick nicht vorenthalten. Der Brunnen in der Stadtmitte ist stets einem berühmten Sohn des Städtles gewidmet. Jedes Städtle hat einen berühmten Sohn, hilfsweise eine ebensolche Tochter oder wenigstens eine adlige Gönnerin. Neben einer ruhmreichen Vergangenheit präsentiert sich das Städtle heute stolz mit einem nicht minder beeindruckenden Schuldenhaufen.

Kommst du, Wanderer, vertrauensselig des Wegs gezogen, kündet die hinter dem Hügel aufragende Kirchturmspitze verheißungsvoll von der Anwesenheit eines Städtles, sofern das monumentale Werbegestell der dem Ort vorgelagerten Fastfood-Bude nicht die Sicht verstellt. Aber es kann ja auch mal einen nebligen Wandertag geben! Dann geleiten zerknautschte Frittenschachteln den dankbaren Wandersmann noch einen Kilometer lang zuverlässig ins Zentrum des heimeligen Gemeinwesens, wo er ebenso zuverlässig das gastliche Wirtshaus, den "Schwanen", gegenüber der Kirche findet. Sollte der Flecken etwas auf sich halten, hatten sich in dieser Herberge auch schon Goethe oder Napoleon eingenistet, welche ja bekanntermaßen das Fernweh fürchterlich zu plagen pflegte. Indessen, wer auch immer sich zur Postkutschenzeit in den Pfühlen des "Schwanen" seinen Bandscheibenvorfall erschlummerte, heute heißt der altehrwürdige Fachwerkbau "Shanghai", und zwei wohlgelungene Löwe/Frosch-Kreuzungen, links und rechts von der Eingangstür aufgestellt, glotzen grimmig hinübel zum Lathaus. In der gleichen Richtung liegen das ebenso regionaltypische "Akropolis" und das "Venezia", sodass vor dem erschöpften Rucksackträger noch ein tüchtiges Stück Weges liegt, sollte er sich in den Kopf gesetzt haben, den entzückenden Wandertag mit einem herzhaften Zwiebelrostbraten abzuhaken.

Während sich das Magenknurren des Fremdlings in den malerischen Gassen verliert, beginnt sich das abendliche Städtle mit den von der Arbeit heimkehrenden Pendlern zu füllen. Ihr Weg zum Häusle in der Unter- oder Oberstadt führt sie durch die Fußgängerzone, in der sie noch schnell für dies und das ein paar Euro los werden. Die Fußgängerzonen - der Broadway in den Städtle - entstanden landesweit nahezu zeitgleich, als das Verkehrsgetümmel auf dem Kopfsteinpflaster aus Goethes Zeiten lebensgefährlich geworden war und die Gemeinderäte sich auf dem Weg zum Sitzungssaal durch dichte Abgasnebelwolken tasten mussten.

Heutzutage ist es noch ruhiger geworden in der Fußgängerzone: Wöchentlich macht mindestens ein Laden dicht. Die XV -Bankfiliale hat sich auch schon aus dem Staub gemacht und aus dem Café, in welchen Generationen draller Bürgerswitwen Tonnen von Obsttorten vertilgten, blinken aufdringliche Spielautomaten durch die blinden Scheiben. In manchen Städtle verkehrt auf dem Bahnhof inzwischen alles Mögliche, nur kein Zug mehr.

Die Geschäftsleute im Städtle, aber, sind ideenreich und fleißig, und so findet der Wanderer selbstverständlich eine flotte Pension mit einem sensationellen Zwiebelrostbratenrezept nebst einem komfortablen Bett. Der dramatische Rückgang der Deutschen Leghenne in der Bevölkerungsstatistik der Städtle führt allerdings dazu, dass der rustikale Weckruf der Hähne auch im Vorstädtle leider zur Seltenheit geworden ist. Weitaus größer ist die Wahrscheinlichkeit. vom Radio eines vorbeifahrenden Autos aus den Federn geplärrt zu werden.

Frustriert, aber ausgeruht, blinzelt unser Wandersmann, mit dem Frühstücksei auf dem Hemd zünftig dekoriert, etwas verspätet in die Morgensonne und zieht in Richtung Klostertor davon. Die Bürger eilen zur Verrichtung ihrer Dinge durch die Straßen, und auch er muss nun (siehe Elvis) zum Städtele hinaus und entschwindet voll überwältigender Eindrücke beim Baumarkt um die Ecke. Nach welch bildender Erkenntnis ihn beim Wandern dürstet und welche historischen Motive seine Schritte lenken, deutet oftmals der Name des Weges. denn jedes Städtle liegt an einem Weg: Limesweg. Jakobsweg. Keltenweg oder Barock-, Dichter-, Burgenstraße. Die Straße meidend, schreitet der Wanderer übers Land, zum nächsten Städtle. Noch einmal blickt er zurück auf die Türme im Städtle und auf die schmucken Häuser, die sich am Galgenberg wohlgeordnet staffeln. Städtlesleute sind nämlich sittsam, ordentlich und ehrlich, weshalb auch der Galgenberg, lang ist's her, voreilig in noble Bauplätze zerlegt worden ist.

Ein munter plätschernde Bach ermöglichte die Gründung der Städtle und für viele Handwerker im Ort bildete er die Existenzgrundlage. Degradiert zum Tummelplatz für überfütterte Enten und überforderte Gerümpelentsorger, gewinnt er mit der Option Hochwasser in neuerer Zeit wieder ehrfürchtigen Respekt.