Die einstige Industriegemeinde im Schatten von Kirchheim

KIRCHHEIM. Wer sich für Ötlingen interessiert, kann sich einer neuen Internetseite bedienen. Oder aber er fragt Ulrich Müschenborn. Der 67-Jährige gilt als wandelndes Lexikon, der sich wie kaum ein anderer mit der Geschichte und der aktuellen Situation des Stadtteils auskennt.

Von Wolfgang Berger

"Den holt dr Deifl amöl pfondweis": Der gebürtige Lichterfelder Helmut Puppenberger ist inzwischen so bewandert, dass er auch gestern wieder den Tagesspruch in (zumindest fast) perfektem Schwäbisch auf die von ihm wiederbelebte und betreute Internetseite über den Kirchheimer Stadtteil Ötlingen stellen konnte. Zu der Liaison zwischen dem waschechten Berliner und Ötlingen kam es, nachdem 1986 eine Ötlinger Familie bei ihm eingezogen war.

"Durch ein verstopftes Abflussrohr kam ich in engen Kontakt mit allen meinen Mietern, somit auch mit

der Familie Grahn. Daraus entwickelte sich eine jetzt über 20-jährige Freundschaft, die auch nach dem Umzug der Familie wieder zurück nach Ötlingen immer noch anhält", erklärt Puppenberger. Der "tiefere Grund", eine zwischenzeitlich vom Netz genommene Homepage zu reaktivieren, ist indessen die "Liebe, die ich zu Ötlingen, den Menschen und der Umgebung anlässlich meiner seither regelmäßigen Besuche entwickelte", sagt Puppenberger.

Neben einer Bildershow, Wirtschaftsinformationen, einem Veranstaltungskalender und Arztadressen enthält die Seite auch Historisches. So erfährt der Nutzer, dass 1905 in Ötlingen der elektrische Strom eingerichtet wurde. Wer an dieser Stelle wissen möchte, wie es dazu kam, findet im Internet keine weiteren Erklärungen. Einer der es wissen muss, wie es dazu kam, dass in Ötlingen die Lichter angingen, ist Ulrich Müschenborn. Dessen Großvater Friedrich Müschenborn baute um die Jahrhundertwende eine Maschinen- und Werkzeugfabrik auf, die mit zeitweise mehr als 400 Beschäftigten die wichtigste Metall verarbeitende Firma im Ort war. Mit dem überschüssigen Strom wurden dann die Straßen beleuchtet.

Vom einstigen Glanz des Industriebetriebs sind nur Ruinen übrig geblieben. Der früheren Gesenkschmiede scheint dasselbe Schicksal zu drohen wie anderen Traditionsfirmen in der ehemaligen Industriegemeinde: "Die Färberei Leckebusch - abgerissen, Wohnbau, die Kammgarnspinnerei Schachenmayr - abgerissen, Wohnbau", zählt Ulrich Müschenborn auf. Im 6600 Einwohner zählenden Ötlingen, das früher Arbeitskräfte aus Kirchheim, Wendlingen und dem Lenninger Tal angezogen hat, ist es heute andersrum, die Einwohner arbeiten auswärts, laut Ulrich Müschenborn ist der Stadtteil "eine Schlafstätte von Stuttgart" geworden.

Dass Ötlingen seine einstige wirtschaftliche Bedeutung eingebüßt hat, liegt sicher nicht daran, dass die vormals selbstständige Gemeinde 1935 Kirchheim zugeschlagen wurde. Die frühe Eingemeindung ist aber auch aus Sicht des Ortsvorstehers Hermann Kik mit die Ursache dafür, dass Ötlingen von der Zentralgewalt im Rathaus städtebaulich stiefkindlich behandelt worden sei. Während die in den 1970er-Jahren eingemeindeten Teilorte Jesingen und Nabern über die Teilortswahl Sitze im Gemeinderat sicher haben, hat bei der letzten Kommunalwahl "dr Deifl soll"s pfondweis holen" - kein Ötlinger den Sprung ins Gremium geschafft.

Die Unterrepräsentation ist für Müschenborn an fast jeder Ecke abzulesen. Eine wenig einladende Ortsmitte, die "dem Verfall preisgegebene" Turn- und Festhalle und ein "geringes Zusammengehörigkeitsgefühl" lassen den Ötlinger eher skeptisch in die Zukunft blicken. Einzig beim samstäglichen Stammtisch im Rössle scheint die gute alte Zeit stehen geblieben zu sein. Früher trafen sich die Bauern dort allmorgendlich zum "Arbeitsgespräch". An dieser Tradition wenigstens wollen die Ötlinger festhalten.

http://www.kirchheim-teck-oetlingen.de

Quelle: Stuttgarter Zeitung online